Künstliche Intelligenz war nicht nur wieder auf der diesjährigen dmexco ein großes Thema, sie ist es im Marketing schon länger. Reden wir im Media-Business beispielsweise über die zunehmende Automation im Marketing, dann drehen sich meist 90 Prozent der Gespräche um Technologie. Und immer schwingt ein bisschen die Suggestion mit: Kollege Computer wird das mit Big Data in Realtime künftig schon richten. Häufig fehlt jedoch die strategische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex, denn „Server an“ bedeutet keineswegs „Hirn aus“. Je mehr künstliche Intelligenz wir einsetzen wollen, desto mehr intelligenten Menschenverstand brauchen wir.

Warum Artificial Intelligence nicht reicht

Um eine sinnvolle Infrastruktur für Marketing-Automation aufzubauen, benötigen wir Experten mit hoher Fachkompetenz. Kein Bauwerk ohne Architekt! Datenbasierte Kommunikation braucht eine Menge Menschenverstand, damit nicht Daten- und Serverfriedhöfe entstehen. Bevor der erste Vertrag mit einem Technologie-Dienstleister unterschrieben und eine umfassende, wolpertingergleiche Suite erstanden wird, gilt es eine ganze Menge Fragen vorab zu klären: Beispielsweise in welchem Format und in welche Frequenz die Daten wo vorliegen. Wozu sie genutzt werden sollen, wer sie analysiert und aus der Analyse entsprechende Schlüsse ableitet. Dazu benötigen Marketer Expertenwissen, das in der Regel über mehrere Abteilungen, Funktionen und Menschen verteilt ist.

Alle Macht den Algorithmen? Der wahre Effizienz-Booster ist immer noch TV! | Dr. Andrea Malgara

Die Digitalisierung – seit Erfindung des Buchdrucks gab es keinen vergleichbaren Big Bang in der Medienlandschaft. Es entstanden Galaxien neuer Inhalte.

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Deshalb lohnt es, sich frühzeitig und systematisch mit der Digitalisierung und der Automation von Prozessen im Marketing auseinanderzusetzen. Kritisches Denken ist dabei eine zwingende Voraussetzung für wirkliche Innovation. Wenn alle Werbetreibenden nach demselben Wunder-Algorithmus planen, einkaufen und buchen, wo bleibt dann der Wettbewerbsvorteil?

Marketing Automation ist vor allem stark darin, repetitive Aufgaben nach festen Regeln abzuarbeiten. Menschliche Intelligenz muss im Vorfeld aber sinnvolle Ziele definieren und die dazu passenden Regelmechanismen definieren. Wer als Marketer nicht wissen will, wie „seine“ Algorithmen im Grundsatz arbeiten, macht sich mittelfristig überflüssig. Denn das Ziel „10 Prozent mehr Umsatz“ kann der Vorstand dem Technologie-Dienstleister auch selbst diktieren. Was er meist nicht kann: Bewerten, welches Set an Menschen und Technologie er braucht, um das Optimum an Ergebnis zu erzielen.

Die Digitalisierung verhilft sowohl den Unternehmen als auch den Menschen zu einer unvorstellbaren Menge an Daten, die nur noch rechnergestützt ausgewertet werden können. Die Krux ist aber: Mehr Daten, also Big Data, liefern nicht zwingend ein besseres Verständnis über das Verhalten der Menschen. Meist bieten weniger analysierte Merkmale eine trennschärfere Grundlage und ein differenzierteres Verständnis der Bedürfnisse des Einzelnen.

Der Mensch muss also mit seiner Erfahrung entscheiden, welche Daten wichtig und welche weniger wichtig für ein sinnvolles Ergebnis sind. Denn die Differenzierung von Produkten und Marken stellt einen extrem wichtigen Faktor im Wettbewerb dar. Das aber können die standardisierten Prozesse, nach denen Algorithmen arbeiten, eher weniger leisten.

“Unser Bauchgefühl ist eine Art biochemischer Algorithmus, der sich über Jahrhunderte selbstlernend entwickelt hat – und dessen Funktion in einer digitalen Welt gerne gering geschätzt wird. #IA #Marketing #Automation“

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In der Praxis führen Automatisierung und too much Data heute in den Unternehmen am Anfang zu mehr Komplexität und damit in der Regel zu einer Überforderung der Marketer. Dieses ungute Gefühl – vielleicht verbunden mit eigenem Halbwissen – birgt Risiken für die Entscheidungsfindung. Marketer müssen deshalb – bevor sie in Technologie investieren – erst einmal Wissen rund um den Themenbereich Marketing Automation und Künstliche Intelligenz aufbauen.

Durch Kopf in den Sand kommt Sand in den Kopf

Den Kopf nach der Vogel-Strauß-Methode in den Sand zu stecken und zu warten, dass die Marketing Automation am eigenen Unternehmen vorbeizieht, geht nicht lange gut. Der Automatisierungsgrad im Marketing wird definitiv steigen, je digitaler unsere Welt und alle Medien und Geräte in ihr werden. Was hilft? Hirn an! Selbst Aufschlauen und den Prozess der Automatisierung aktiv gestalten.

Menschliche Intelligenz muss entscheiden, wo sie künstliche Intelligenz als Unterstützung sinnvollerweise einsetzt. Der Mensch verfügt nämlich über eine entscheidende, gelegentlich unterschätzte Fähigkeit: das Bauchgefühl. Damit ist nicht das leichte Grummeln in der Magengegend gemeint, wenn man sich in der Kantine zwischen Salat und Schnitzel entscheidet, sondern ein Gefühl, dass sich aus Know-How und jahrzehntelanger, in der DNA und im Gehirn feinsäuberlich gespeicherter Erfahrung zusammensetzt.

Unser Bauchgefühl ist eine Art biochemischer Algorithmus, der sich über Jahrhunderte selbstlernend entwickelt hat – und dessen Funktion in einer digitalen Welt gerne gering geschätzt wird. Das Bauchgefühl der Marketer muss sich aber künftig gegen die Algorithmen und Daten der Server matchen lassen. Und weil der Mensch was Schnelligkeit und Menge der Datenverarbeitung betrifft, der Maschine hoffnungslos unterlegen ist, müssen Marketer ihre Rolle intelligent neu definieren: Wer, Mensch und/oder Maschine, kann wo das beste Ergebnis liefern? Und wie funktioniert das optimale Zusammenspiel? Dabei reicht es keineswegs, einer Servercloud mit klugem Algorithmus Ziele wie CPOs oder Verkaufszahlen vorzugeben – und die Maschine optimiert dann selbstlernend bis zum Erreichen des Ziels.

Ob dieser Zustand jemals erreicht werden kann, ist sowieso fraglich – sicher jedoch nicht innerhalb der nächsten Generationen von künstlicher Intelligenz. Bis dahin sollten wir eher begleitetes Machine Learning praktizieren, bei der die menschliche Intelligenz die Künstliche sinnvoll einsetzt.

Erschienen in Best of OMG 2017 – Ausblick 2018

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